Die Praxis der offenen Arbeit
Ein Text von Hans-Joachim Rohnke
Die Praxis offen arbeitender Kindergärten findet seit vielen Jahren große Beachtung in der Elementarpädagogik. Insbesondere in Teilen einer gut informierten und engagiert auftretenden Eltern- und Erzieherschaft werden die Vorzüge zunehmend honoriert und wertgeschätzt. Nicht nur die aktuellen Bildungspläne und -empfehlungen der Bundesländer sondern auch die jüngeren Befunde der Neurobiologie, der Kleinkindforschung und der Entwicklungspsychologie beflügeln mittlerweile diesen pädagogischen Arbeitsansatz. Er greift in geradezu exemplarischer Weise die wissenschaftlichen und politischen Forderungen nach Kindzentrierung, Selbstbildungsprozessen und Eigeninitiative auf.
Im Verständnis offener Pädagogik wird das Kind als Akteur seiner Entwicklung gesehen: es setzt sich vital und engagiert mit seiner sozialen und sächlichen Umwelt auseinander und sucht dabei aktiv Antworten auf seine individuellen, d. h. persönlichen Fragen. In sogenannter KoKonstruktionen (gemeinsam mit anderen Kindern und Erwachsenen) präsentiert das Kind seine dabei gewonnenen Erkenntnisse und optimiert sie im dialogischen Austausch und im Abgleich mit Wissenskonstruktionen anderer Menschen. Das solchermaßen erworbene, erweiterte und gefestigte Wissen gilt aus Sicht der neueren Hirnforschung als nicht nur besonders handlungsertüchtigend, sondern auch als in spezieller Weise intensiv, belastbar und vor allem als nachhaltig wirksam.
Schon vor über 35 Jahren wurden solche kindlichen Verhaltensweisen von aufmerksamen ErzieherInnen beobachtet und für die Gestaltung von Alltagspraxis in Kindergärten genutzt. Sie fingen an, gemeinsam mit den Kindern, Erfahrungs- und Erlebnisräume einzurichten (häufig Funktions- oder Themenräume genannt) die sich an den Bildungs-, Lern- und Aktivierungsinteressen der Kinder orientierten. Immer wieder wurden die solcherart geschaffenen Arrangements kritisch reflektiert und ggf. in ihren Ausstattungen und Nutzungsregeln aktualisiert und fortentwickelt.
Für das pädagogische Handeln in der institutionellen Praxis bedeutete dies darüber hinaus, den Kindern stabile und authentische Beziehungserfahrungen zu ermöglichen und sie vor allem in ihren persönlichen Aktivitäten und Bildungsinteressen ernst zu nehmen. Andere Kinder und Erwachsene wurden und werden dabei als wichtige soziale Interaktionspartner benötigt. Deren fortwährend registrierten Resonanzen sind wesentliches Element und Stimulans subjektiver Bildungs- und Lernprozesse und Antrieb für die Herausbildung und Reifung von Identität und Persönlichkeit.
Die klassisch festgelegten konventionellen Gruppenkonstellationen werden in dieser Sichtweise (analog zu jüngeren Ergebnissen der Gruppenforschung) als eher entwicklungshemmend und zu wenig flexibel erlebt. Die Gefahr der sich dort verfestigenden Hierarchien und sich wiederholender einengender Beziehungsmuster ermöglicht es insbesondere weniger temperamentvollen und zurückhaltenden Kindern häufig nicht, sich ausreichend mit ihren Entwicklungsbedürfnissen und –themen positionieren bzw. einbringen zu können.
Die freie Wahl von Gruppen, Spielpartnern, Spielaktivitäten und Spielorten zu dem vom Kind gewählten Zeitpunkt gilt demgegenüber als konstitutives Moment offener Ansätze. Dem Kind wird vertraut und zugetraut, dass es seine Bildungsprozesse eigenmächtig vorantreiben kann. Es darf sich dabei des Respekts und der erforderlichen Unterstützung durch den Erwachsenen sicher sein. Selbst schüchterne und ängstliche Kinder finden nach einiger Zeit zu ihren natürlicherweise angelegten Möglichkeiten der Selbstgestaltung und Selbstwirksamkeit zurück und holen zügig manch eine „zu kurz gekommene“ Erfahrung nach.
Dieses Bildungsverständnis stellt hohe Anforderungen an das Verhalten des pädagogischen Personals: gefragt sind verständnisvolle Zurückhaltung, einfühlsame Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten und ein taktvolles Unterstützen und Begleiten kindlicher Entwicklungsbedürfnisse. Selbstkritisch gilt es den eigenen Steuerungs-, Kontroll- und Handlungsimpulsen zu widerstehen und die eigene Aktivität und Selbstpositionierung durch das alte pädagogische Paradigma Maria Montessoris „Hilf mir, es selbst zu tun“ leiten zu lassen. Nicht alle Ausbildungsgänge bereiten die pädagogischen Fachkräfte ausreichend auf dieses anspruchsvolle Verständnis vor. Seit einigen Jahren haben sich daher berufsbegleitende Weiterbildungs- und Qualifizierungsinitiativen entwickelt. Das Land Rheinland-Pfalz war 2006 das erste Bundesland, das diese Herausforderungen ernstgenommen und die Professionalisierung ambitionierter Fachkräfte in diesem Feld interessiert und wohlwollend begleitet und unterstützt hat.